- Psychologie im 19. Jahrhundert
- Psychologie im 19. JahrhundertDas 19. Jahrhundert gilt auch als das Jahrhundert der Psychologie: Das menschliche Seelenleben rückte immer mehr in den Brennpunkt kultureller Aufmerksamkeit und erweckte Interesse auf den unterschiedlichsten Ebenen - begrifflich-theoretisch (als akademisch-wissenschaftliche Disziplin), weltanschaulich-religiös (zum Beispiel in romantischen und theosophischen Spekulationen) und künstlerisch-literarisch (etwa in den großen russischen Romanen). So entfaltete sich die Psychologie als Bestandteil eines weit gefassten geistigen Diskurses in den Spannungsfeldern von Natur- und Geisteswissenschaften, von Literatur, bildender Kunst und Tonkunst sowie von Religion und Philosophie zwischen (niedergehender) Metaphysik und (aufsteigendem) Positivismus. Dabei ist Gegenstand und Begriff zu unterscheiden. Als Gegenstand ist die Psychologie so alt wie die Menschheit selbst: Es gibt sie zumindest von dem Zeitpunkt an, da Menschen über ihre »Seele« (griechisch psyche) nachdenken. Gemeint ist damit eine - spekulativ als Einheit konzipierte - Zentralinstanz menschlichen Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns, wie sie (implizit) seit je in den philosophischen und theologischen Diskursen präsent ist. In den monotheistischen Religionen bilden Gott, Welt und Menschenseele die Hauptthemen. In den fernöstlichen Denksystemen begegnet ein kosmischer, Allheit und Einzelwesen verbindender Seelenbegriff, dessen Rezeption in Europa - im Zuge von Romantik und Lebensphilosophie - zu einer Konjunktur der Mystik führte. Begriffsgeschichtlich taucht der Titel »Psychologie« erstmals in Traktaten und Abhandlungen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts auf.Der kontinentaleuropäische Rationalismus des 18. Jahrhunderts hatte Vorarbeiten für eine spekulative geleistet, während der angelsächsische Empirismus Grundlagen für eine empirische Psychologie ausgebildet hatte. Die Rationalisten der Leibniz-Wolffschen-Schule hatten »Psychologie« - neben »natürlicher Theologie« und »Kosmologie« - zu den drei Disziplinen der »Metaphysica specialis« gezählt. Im Kontext erkenntnis- und gefühlstheoretischer Überlegungen hatten Empiristen wie John Locke und David Hume Theorien der Wahrnehmung und des Denkens entwickelt, die als Grundmuster fachwissenschaftlicher Orientierung bis heute nachwirken. Und die französischen Moralisten wie etwa Jean de La Bruyere oder François La Rochefoucauld hatten das menschliche Verhalten in ihrer aphoristischen Literatur ebenso scharf analysiert wie skeptisch beurteilt.Wie andere Wissenschaften empanzipierte sich im 19. Jahrhundert auch die Psychologie von der Philosophie und etablierte sich - mit einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis und unter Berufung auf empirisch-experimentelle Methoden - als eigene Disziplin. Dies geschah vor allem nach 1830, als der Einfluss der hegelschen Philosophie zurückging. Ihr absoluter Wissensanspruch konnte angesichts des rasanten Aufstiegs der positivistischen Naturwissenschaften nicht aufrecht erhalten werden. Und die alte universalistische Wissenskonzeption, in der die Metaphysik bildlich als Baum und die Einzelwissenschaften als dessen Äste und Zweige gedacht wurden, verblasste zum regulativen Ideal. In Anknüpfung an Kants reine Vernunftkritik beschränkte der Neukantianismus Sinn und Aufgabe von Philosophie auf die erkenntnistheoretische Grundlegung der positiven Wissenschaften.Vor diesem Hintergrund etablierte sich eine »psychologistische« Bewusstseinsphilosophie, die sich in unterschiedliche Richtungen verzweigte. Franz Brentano brachte die für die Folgezeit wichtigen Begriffe »Akt« und »Intention« in die Diskussion. Alexius Meinong entwickelte eine auf »Erlebnisklassen« basierende Gegenstands- und Werttheorie. Christian von Ehrenfels wies »Gestaltqualitäten« des Wahrnehmens und Erkennens nach. Wilhelm Dilthey verurteilte eine einseitig naturwissenschaftliche Ausrichtung und forderte eine geisteswissenschaftlich orientierte, »verstehende« Psychologie. Gegen eine »psychologistische« Auflösung von (objektiver) Logik in (subjektive) Erkenntnistheorie hingegen wendeten sich Gottlob Frege sowie - programmatisch in seinen 1900 erschienen »Logischen Untersuchungen« - Edmund Husserl. Dieser Anti-Psychologismus bewirkte, dass sich nicht nur Psychologen von Philosophen, sondern auch Philosophen von Psychologen stärker abzugrenzen suchten.Vor allem aber erforschte man nun das menschliche Bewusstsein - freilich noch nicht das Un- und Unterbewusste - experimentell. Johann Friedrich Herbart führte die englische Assoziationspsychologie Humscher Prägung in Deutschland ein, modifizierte sie aber durch Hinzunahme eines spontanen (transzendentalphilosophischen) Prinzips der Bewusstseinsgestaltung. Dieses begriff er als ein Konfliktfeld, in dem mit- und gegeneinander wirkender Kräfte und Vorstellungen zum Tragen kommen. Als einer der Ersten forderte er mathematische, quantifizierende Messmethoden für die Psychologie und entwickelte Ansätze einer praxisnahen Lernpsychologie. 1816 publizierte er das erste psychologische Lehrbuch.Die Psychologen des 19. Jahrhunderts bekleideten (noch) weitgehend Lehrstühle für Philosophie und versuchten dabei oft zweigleisig zu fahren, indem sie einerseits auf Empirie setzten und andererseits metapyhsische Theorien entwickelten, die den Gesamtzusammenhang von Wissen und Wirklichkeit in neuer Weise erfassen sollen. Dies gilt etwa für Gustav Theodor Fechner, der - ähnlich wie der Anatom und Physiologe Ernst Heinrich Weber - streng mathematisch-naturwissenschaftliche Experimente durchführte und um höchste Exaktheit bemühte Testmethoden erarbeitete, zum Beispiel für die Wahrnehmungsschwellen der verschiedenen Sinne und über die Fehlergrenzen der Beobachtung bei wissenschaftlichen Experimenten. Daneben aber lehrte er eine extrem spekulative, panpsychistische Naturphilosophie (»Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen«, 1848). Ähnliches findet man auch bei Rudolf Hermann Lotze, der empirisch zu gewinnende Daten - etwa über die Entstehung der Raumvorstellung oder über den Zusammenhang von Emotionen und körperlichem Ausdruck - mit ihrer metaphysischen Ausdeutung zur Einheit bringen anstrebte.Metayphysische und naturwissenschaftliche Denkebenen drifteten nun allerdings unaufhaltsam auseinander. Die sich etablierenden positivistischen Methoden wurden immer mehr in einem streng materialistischen beziehungsweise metaphysikfreien bis -feindlichen Sinne verstanden. Zwar versuchten Philosophen wie Dilthey oder die Neukantianer Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert einen Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, doch stießen ihre Konzeptionen auf nur geringen Wiederhall. Der universitäre Zeitgeist hatte sich vorerst dem »naturwissenschaftlichen Weltbild« verpflichtet und drängte das, was Arthur Schopenhauer das »metaphysische Bedürfnis« des Menschen genannt hatte, in sub- und außerakademische Kanäle ab. Damit aber schlug die Stunde der populären Lebens- und Weltanschauungsphilosophien, die sich teilweise dann auch mit Neuformierungen religiöser Spekulationen verbanden und sich als Spiritualismus oder Theosophie beziehungsweise Anthroposophie präsentierten.Die zentralen Gestalten des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland waren Wilhelm Wundt und Hermann Ebbinghaus. Wundt bemühte sich um eine Klärung der physiologischen Grundlagen des Seelenlebens, insbesondere um die experimentelle Erforschung des Assoziationsvermögens. Ebbinghaus, ein Gegner Diltheys, bezog, über die Analyse der Wahrnehmungs- und Assoziationsprozesse hinaus, auch höhere Geistesfunktionen wie das Gedächtnis in seine experimentellen Untersuchungen mit ein. Carl Stumpf und Otto Külpe suchten die Synthese von experimenteller und Aktpsychologie.Der weltweite Doyen in der Psychologie der Jahrhundertwende aber war William James, neben Charles S. Peirce die zentrale Gestalt des amerikanischen Pragmatismus. Er thematisierte - ähnlich wie Henri Bergson - den »Stream of consciousness«, den fließenden Bewusstseinsstrom, und die physiologische Basis sowie die lebenspraktische Relevanz von Vorstellungen und Ideen. Um ein wesentliches Missverständnis des Bewusstseinsbegriffs zu vermeiden, wollte er den Ausdruck »consciousness« durch »knowing« ersetzen, und er rückte dessen Bedeutung eng an den Erfahrungsbegriff heran. Nicht nur eine, sondern viele Arten von Erfahrung sollten nebeneinander gelten dürfen und Gegenstand der Forschung sein. Dazu gehörten auch religiöse Erfahrungen.An der Schwelle des 20. Jahrhunderts standen dann allerdings zwei neue und vor allem völlig unterschiedliche psychologische Richtungen, die die bisherigen Themen und Methoden der Psychologie grundlegend ändern sollten: die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die Verhaltenspsychologie.Dr. Reinhard Margreiter
Universal-Lexikon. 2012.